Borderline Circus der Double Standards
©Charlotte Bösling
Borderline Circus der Double Standards
©Charlotte Bösling

Es ist Sonntagabend, 18 Uhr – Zeit zum Ausrasten: Hanna Steinmairs RAGE – A Tennis Western feiert Premiere auf der Plattform Digitaler Mousonturm. Schon der Trailer verspricht ungefilterte und unmittelbare Destruktion, die geheime Begierden nach Zerstörungswut weckt – aber: Wer schaut 2021 eigentlich noch Western? Nach "1001 Sorrys" und "How to Excuse" widmet sich die Dramaturgin und Performerin erneut einer Thematik, die zugegeben viel breiter gesellschaftlich diskutiert werden müsste: die Wut.

It's only crazy until you do it
Was bedeutet „unlimited rage“? Das Stück, welches bereits für 2020 im Mousonturm geplant war, beginnt wie selbstverständlich mit einem der bekanntesten Western-Scores, sodass man unweigerlich vor dem inneren Auge die trockenen Büsche durch die Steppe rollen sieht. Die erste Performerin betritt die Spielfläche ganz Cowboy-lässig. Der darauf folgende Einspieler kontrastiert dagegen durch sportliche Slogans und Optimierungs-Dogma-Werbeästhetik-Anstrengung, Schweiß und Verausgabung, aber dafür mit realen und vor allem keinen normschönen Körpern. Zurück zum Setting, das unter anderem aus einem weißen Tennisspielfeld und zwei Hochsitzen besteht und zunächst sehr minimalistisch, fast steril daherkommen mag, bis die zweite Performerin die Ruhe durchbricht. Vorbei ist die Spannung eines typischen Western-Moments: Die Gegenüberstellung, die Stille, das Warten; sie zerstört ihren Tennisschläger ausgiebig unter Schreien und Ächzen (und es wird nicht der Letzte sein).

Wünschst Du Dir nicht auch manchmal so richtig grenzenlos wütend sein zu dürfen? Wann und wo konntest Du diesem aufsteigenden Schwall von Ärgernis einen Raum gegeben und wann hast du zum letzten Mal aus Wut etwas zerstört? Wut ist ein Aspekt, auf den man im Alltäglichen lieber den Deckel des Schweigens setzt. Dennoch hat dieser Bereich viele Facetten des Ausdrucks: Es gibt Wut, die im Stillen brodelt und nie ans Tageslicht kommt. Es gibt die Wut, welche friedlich verkörpert und trotzdem geahndet wird. Und es gibt die Art von Wut, der man einfach die Türen zum Inneren des Capitols öffnet und die ungehindert ihrer selbst Ausdruck verleihen darf. Es gibt sogar Wut, die gesellschaftlich akzeptiert wird (aber die ist meistens männlich). Es stellt sich somit unmittelbar die Frage: Wer darf eigentlich wütend sein und wer nicht? Hier beginnt Hanna Steinmairs performative Verhandlung, die sich zwischen Tennis, Country, Wrestling-Posen, Schreien und Stöhnen jener Tatsache annimmt: Wut ist nicht gleich Wut. „I wanna be an angry white man – because I wanna be fucking angry“ ist dabei die unbequeme Wahrheit und Problem zugleich. Unkontrolliertheit, emotionale Maßlosigkeit – ist man John McEnroe, mit tiefergelegter Stimme, ist das womöglich ein Ausdruck von Männlichkeit – bist Du Serena Williams sieht das ganze schon wieder anders aus. „Punktabzug!“, denn Hysterie hat auf dem Spielfeld keinen Platz. In Bezug auf Serena Williams' Ausraster bei den US Open 2018 twitterte die ehemalige Tennisspielerin Billie Jean King „When a woman is emotional, she’s “hysterical” and she’s penalized for it. When a man does the same, he’s “outspoken” & and there are no repercussions. Thank you, [Serena Williams], for calling out this double standard. More voices are needed to do the same.”

Die Performance seziert diesen Filtermodus und gesellschaftlich eingeschriebene Lesart mit einer großen Auswahl an Polit- und Popkulturzitaten, die rasend schnell aufeinanderfolgen – eine sich stets selbst überwerfende Studie von emotionalen Grenzzuständen, die unser binär durchdrungenes Verständnis aufbricht. Wie viel Emotionalität hält man aus – und wie viel davon vor allem schreibt man intuitiv männlichen Charakteren zu, wenn die Performerin schluchzend am Boden kauert?

Nach dem kurzen Flip zu einer Art Selbsthilfegruppe-Atmosphäre mit emotionalem Zusammenbruch auf dem Hochsitz, finden sich beide Performerinnen in ihrer anfänglichen „Coolness“ wieder nun als Cowboy-Kommenatorinnen am Spielfeldrand. Die Übergänge sind fließend und so wird der Tennisschläger vom Objekt der ungehinderten Destruktion zum Country-Banjo. Hanna Steinmair versteht es durch schnelle Wechsel zwischen Sport- und Popkultur die Ambivalenzen von Emotionalität auf humorvolle Weise zu hinterfragen – was bedeutet es falschzuliegen und mit Verletzlichkeit offen umzugehen? Wie bei einem Tennismatch spielen sich die Performerinnen Maria Sendlhofer und Joana Tischkau im stetigen Wechsel die Standards der Tennis- und Countrywelt zu und eignen sich diese neu an, sodass man am Ende eigentlich nicht mehr so genau weiß, wem welche wutbasierte Emotion „gehört“. What a ride.

RAGE – A Tennis Western von Hanna Steinmair läuft noch bis zum 21.01.2021, jeweils um 20 Uhr über die Plattform Digitaler Mousonturm.

Hanna Steinmair arbeitet als Dramaturgin und Performerin an Möglichkeiten einer empowernden und feministischen Konkretisierung performativer Settings. Im Moment beschäftigt sie sich mit Wut, Tennis, weicher Männlichkeit und utopischen Versöhnungen.

Sarah Reva Mohr ist Künstlerin und schreibt Kommentare, Essays und Kritiken für verschiedene Online-Formate zu (Pop)Kultur, Gesellschaft und Kunst.