Yana Tsegay interessiert sich in ihrer künstlerischen Praxis für die Frage, wie Kultur als Praxis Gesellschaft produziert, wie sie verbreitet, wahrgenommen und angeeignet wird. Dabei arbeitet die Künstlerin mit verschiedensten Medien und Materialien, etwa mit Malerei, Rauminstallation, Performances oder Bildarchiven. Auch der Begriff der Malerei ist weit gefasst. Auf ihren Malereien tauchen eher ungewöhnliche Materialien wie Häute, Felle, Pech, Wachs oder Zucker auf; manche Objekte wie der Carrier Bag bestehen gänzlich aus ihnen. Schon auf die einfachste Frage: was sehen wir hier, Skulptur oder Bild? – verweigert der Amber Shopper eine Antwort. Das Augenmerk gilt den Materialien. Sie werden zu Trägern von Bedeutung und Geschichte und verweisen über ihre ikonografische Darstellung hinaus auf das Verhältnis und die Überlagerung von Geschichte und Fiktion.
Ihre Einzelausstellung „The Amber Room“, die sie 2019 in Berlin zeigte, nahm schon im Titel explizit Bezug auf das sagenumwobene Bernsteinzimmer, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als verschollen gilt.
In der Ausstellung waren Fensterrahmen mit Fliegengittern zu sehen auf denen mit geschmolzenem Zucker gemalt wurde sowie Objekte, die aus Zucker und Harz gegossenen wurden. Die vermeintlich objektive Geschichte eines Prunkzimmers, welches aus reinem Bernstein bestand, überlagert Yana mit ihren eigenen Vorstellung davon, wie es auch aussehen könnte. Sie klopft die Geschichte auf ihre fiktionalen Teile ab und wird fündig. Sie erkennt die soziale Konstruktion der Wirklichkeit und wie aus ihr hegemoniale Machtverhältnisse entstehen. Wieso sollte man sich diesen Mechanismus nicht auch
aneignen und seine eigenen Gegennarrative erzählen, neu formen und experimentell erproben?
Bereits in ihrer theoretischen Abschlussarbeit From the Stone Age to the Present – Höhlenallegorien und Kunstkritik
setzte Yana sich mit George Batailles Frage nach dem Ursprung von Kultur und dem Menschlichen auseinander. Sie
bezweifelte die Idee, dass Kultur und Malerei auf einen klar verortbaren Ursprung zurückzuführen sind, wie dies Bataille
bekanntlich annimmt. Besonders die Malerei und die Kunst müssen, so Yanas Idee, immer als Teil einer fluiden und fiktiven
Geschichte verstanden werden. Es ist ihr wichtig, dass Malerei nicht nur als etwas verstanden wird, das sich auf eine
westliche, sich kanonisch gebende Kunstgeschichte bezieht, sondern auch andere Referenzen in sich aufnehmen kann. Die
Höhlenmalereien stehen beispielhaft für einen solchen fiktiven Referenzpunkt. Dabei wird auch hier sichtbar, dass sie
einerseits das ganz Andere markieren, andererseits – als Teil der Geschichte – auch von fiktiven Vereinnahmungen nicht
geschützt sind. Dieser wie jeglicher Art von hegemonialen Deutungsmustern eine eigene Lesart entgegenzusetzen, war auch ein Motiv des Höhlenhotel Kappadokia, das Yana 2018 in Berlin zeigte; der Titel der Arbeit zugleich ein realer Ort, den die Künstlerin
sich in ihrer Praxis aneignet.
Der Einsatz von Stilen, Titeln, Kontexten oder Rollen, wie beispielhaft in ihrer Performance
als Museumsdirektorin der fiktiven Institution The White Hut (2020), ist eine Methode ihres Schaffens, die immer wieder
neu ausgeübt und erprobt wird, um die Ambivalenz von Aneignung und Anerkennung besser zu verstehen. Einerseits
ist Aneignung ein notwendiger Bestandteil jeglicher sozialer, kultureller und künstlerischer Praxen, (man stelle sich nur vor,
dass man bei jedem Wort, das man sagt, dazusagen müsste, von wem man es gelernt hat) und von zentraler Bedeutung,
um Neues sichtbar zu machen. Andererseits verweisen die Arbeiten von Yana immer auch auf die nicht aufzulösende Dialektik
von Anerkennung und cultural appropriation.
Das Erkunden von Kipp-Prozessen, der schmale Grat zwischen Anerkennung und Aneignung, zwischen dem Sichtbaren
und dem Unsichtbaren, dem Gesagten und dem, was nicht gesagt wird, zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven,
zwischen Geschichte und Fiktion, ist ein zentrales Motiv in Yanas künstlerischem Schaffen. Sie will Selbstverständlichkeiten
irritieren und treibt dafür die komplexen und ethischen Frage von Anerkennung und kultureller Aneignung bis ins
Politische – freilich mit ästhetischen Mitteln. So geschehen besonders bei The White Hut, das als ästhetische Intervention
hinsichtlich des strukturellen Rassismus im Kunstbetrieb konzipiert war. Trotz dieser engagierten Haltung treten Yanas
Werke nie mit erhobenem Zeigefinger auf. Auch auf Pathos verzichtet sie. Sie kann auf ihre eigenen ästhetischen Mittel
vertrauen. Das Nachdenken, z.B. über die moralische Dimension von künstlerischer Anerkennung und kultureller Aneignung,
entsteht in der Auseinandersetzung mit Yanas Kunstwerken erst als Ergebnis einer ästhetischen Reflexion, nicht
etwa, weil die Künstlerin den Betrachtenden das Thema unter die Nase reibt. Es ist eine bedachte, zuweilen hermetische,
gar spöttisch anmutende Arbeitsweise, die ihre Kunstwerke immer mit einem gewissen Rätselcharakter umhüllt.
Text: Leon Joskowitz
Der Katalog zu der Ausstellung kann via KVTV shop erworben werden.