Nadia Perlov ist eine junge israelische Künstlerin, die in Frankfurt am Main lebt und arbeitet. Ihre Kunstwerke bestehen aus multidisziplinären Videoarbeiten, Skulpturen sowie Raum und Wandinstallationen. Thematisch spielt in ihrer künstlerischen Praxis ihr Heimatland Israel, in Form von einer wiederkehrender Fallstudie, eine wichtige Rolle. Mit komplexen und allegorischen Narrativen erkundet sie in einer vielschichtigen ästhetischen Recherche umstrittene Raumgestaltungspraktiken in der palästinensisch-israelischen Region, aus der Vergangenheit und Gegenwart. In dem Video Lost Pardess - Maybe Paradise greift sie auf Performance, Musik, Tanz und Bühnenbild als ästhetische Mittel zurück, um die komplizierten Verbindungen von Land, Natur, Kultivierung des Bodens sowie sozialer Konflikte sichtbar zu machen.
Dabei steht die Jaffa-Orange im Mittelpunkt der Geschichte. Das Video, welches in einem leer stehenden Büro für Fliesenvertrieb aufgenommen wurde, beginnt mit Nadia als Performerin, die in einem pistaziengrünen Hosenanzug, hochhackigen Schuhen und einem festlichen Strasscollier gekleidet, in der verlassenen Bürowüste ins Bild tritt. Nadia hebt langsam ihren Schuh und lässt aus dem Absatz ein Messer hervorschnippen. Mit einer ballettartigen Drehbewegung schneidet sie mit dem Messer einen Kreis in den staubigen Teppich. Die Kreisfläche wird abgenommen und dahinter verbergen sich — Orangen! In einer werbeähnlichen Gestik wird der Geruch, der Geschmack und die Verarbeitung der Orange zu einem Getränk beschrieben — die Orange als Saft, geschält, in Stücken, die Orange als Mythos und das Einverleiben der Orange in einer Choreographie von Nadia getanzt. Eine Frucht ausgestattet mit einer Art super power.
Die Tristesse des verlassenen Büros mit teilweise herabhängenden Deckenpartien lassen aber vermuten, dass die fröhliche Performance und die Anpreisung der Orange auch eine dunkle Seite hat. So singt Nadia zum Ende des Videos ein hebräisches Lied, das nostalgisch, schwermütig und traurig klingt. Es ist das Gedicht El Artzi To My Land von der Dichterin Rachel Bluwstein. Das Gedicht beschreibt das schwierige Verhältnis der frühen Zionisten zu dem Land Israel/Palästina. Es nimmt die Leidens- und Kriegsgeschichte, die diese Region seit einem Jahrhundert durchläuft, vorweg. Die anfänglich in der Performance positiv aufgeladene Jaffa-Orange, als eine wohlschmeckende und -riechende Zitrusfrucht, bekommt eine politische Bedeutung und verweist auf die ersten Siedler, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Israel kamen und zu einem Symbol des israelischen Stolzes, der Modernität und des Wohlstands wurden. Die mit kommerzieller und kultureller Bedeutung aufgeladene Jaffa-Orange hatte die Macht, eine neue Realität für das israelische Volk zu schaffen, indem sie den landwirtschaftlichen Erfolg, die Wüste in einen fruchtbaren Ort zu verwandeln, als eine wunderbare Leistung darstellte.
Währenddessen blieb die palästinensische Seite,
die die meisten der Obstgärten besaß, bevor sie ihnen nach 1948 weggenommen wurden, im Schatten. Kein Licht wurde
auf das kooperative Leben geworfen, das Jüdinnen, Juden und Araber:innen in der Zitrusindustrie vor 1948 führten. Diese
Arbeitsrealität wurde durch eine romantische Idealisierung eines neuen Nahen Ostens ersetzt, der zivilisierte Produkte
nach Europa exportiert. Dass aber eine Zitrusfrucht diese Geschichte in sich trägt, zeigt auf, wie Nadia sagt, dass „der
Krieg viel komplizierter ist, er ist in die Kultur verwoben und dort zu spüren, wo du ihn nicht siehst.”
In ihren neuesten Arbeiten Bugs, die Nadia seit 2020 anfertigt und die Anfang 2021 in einer Einzelausstellung in der Galerie Robert Grunenberg zu
sehen waren, bedient Nadia sich ganz anderer ästhetischer Mittel, behandelt in diesen aber weiterhin die Themen
Land, Krieg und Identität. In großen Schaukästen, die an die Insektensammlungen der europäisch geprägten Botanik
denken lassen, sind auf den ersten Blick die Formen von Käfern zu sehen. Bei näherer Betrachtung werden auf den Käfern, die
Strukturen von Häusern, Gärten und Siedlungen sichtbar. Aus der Vogelperspektive werden diese Collagen zu Vexierbildern,
die zwischen ästhetischen Objekten und deutlicher Kritik an der israelischen Siedlungspolitik changieren.
Nadia sieht es somit als ihre Aufgabe, nicht bloß schöne Dinge zu produzieren, sondern mit ihrer Kunst für den langen
und schwierigen Weg, der vor Israel und Palästina liegt, zu sensibilisieren und zugleich sichtbar zu machen, welche Verbindungen zwischen jüdischer Identität und europäischem Kolonialismus bestehen und welcher hochgradig komplexen
und ästhetisch vielschichtigen Anstrengungen es bedarf, um diese Verstrickungen künstlerisch einzufangen. Neben einer
ästhetischen Darstellung geht es in Nadias Arbeiten auch darum, zu reflektieren, wie sie als Künstlerin Kritik üben und
aufklären kann.
In ihrer Heimat wird den Themen, die sie beschäftigten, häufig aus dem Weg gegangen und eine offensive
Auseinandersetzung bleibt aus. „Es ist eine schwierige Sache über diese Themen in Israel zu sprechen. Die Kunstakademien
wollen nichts mit Politik zu tun haben oder darüber sprechen, wie die Lage in Palästina ist. Die Menschen sind
müde darüber zu sprechen. Macht man es trotzdem zum Thema, wird man zum outsider. Ich hatte aber nun mal diese Fragen
und musste sie stellen. Das hat auch damit zu tun, dass ich in Europa gelebt habe und ich nicht nur die israelische und
die jüdische, sondern auch viele andere Perspektiven auf das Thema kenne.“ Als Israelin, die stetig mit Künstler:innen aus
anderen Ländern in Kontakt kommt, reflektiert Nadia anders über die israelische Gesellschaft. Als Künstlerin versucht sie
neue Perspektiven aufzuzeigen, um der verfahrenen Lage in Israel und Palästina irgendwie einen Funken Zuversicht abzugewinnen.
Text. Leon Joskowitz und Sonja Yakovleva
Der Katalog zu der Ausstellung kann via KVTV shop erworben werden.